Briefwechsel (07.04.19) – eine andere Sichtweise

Liebe Irit,

ich denke derzeit weniger über die globale Lage nach, sondern immer noch über die Sichtweise auf ein Thema.

Eines regnerischen Tages im November, ich saß mit meiner braunen Wolldecke auf der Couch, ich weiß es noch, als wäre es gerade gewesen, bekam ich eins der Bücher in die Hand, in der es um Aufräumen und Putzen ging. Der Autor war Messie und in einer Selbsthilfegruppe dafür.

Irgendwann bemerkte er, dass es gerade diese Gruppe war, die ihm den Ausstieg schwer machte, denn er definierte sich mit dem Problem, als würde es zu seiner Persönlichkeit gehören und damit unveränderbar sein.

Er stieg dort aus und ihm kam die Idee, dass eine aufgeräumte und saubere Wohnung für ihn wie ein Stück Torte war, das er genießen könnte. Also nichts, wofür er sich anstrengen musste, denn Torte kaufen gehen war für ihn ja auch nicht anstrengend. Er hat also den ganzen Weg dahin nur das Ziel gesehen. Nicht der Weg war das Ziel, sondern das Ziel war das Ziel.

In der Gruppe ging es um die Schwierigkeit des Aufräumens, für ihn um das Glück des freien Lebens aka Stück Torte essen, seiner Idealsituation, die er immer wieder und in kürzeren Abständen wollte.

Was mich daran positiv irritiert  hat, war der Fakt, den ich auch oft beobachtet habe. Wer ein Problem hat, sucht sich Leute, die dasselbe Problem haben und die Energie des Problems verstärken und ihre Sicht, die ihnen ja das Problem erst eingebracht hat. Auch mir damals, ich war zwar kein Messi, aber mein Vater konnte man so bezeichnen, hätte es den Begriff damals schon gegeben. Ich hatte immer Sehnsucht nach Ordnung, wusste aber nicht wie machen, ohne ständig genervt zu sein. Ich kriegte es mit Ach und Krach irgendwie hin, war aber nie glücklich und routiniert ging es schon gar nicht.

Ich hab mich im Laufe der letzten Jahre viel über Ordnung und Saubermachen unterhalten. Putzen, wenn viel herum steht, ist die Pest an sich.

Es gibt den wunderbaren Volkssport, sich gegenseitig zu versichern, wie nervig das ist. Wie soll man da wieder heraus kommen und es anders sehen?

Das Entdecken einer neuen Sicht eines ganz neuen Gedankens, einer gehörten Bemerkung, die einem fremd ist usw. sind die Möglichkeiten, ein Problem zu lösen, das man immer hatte. Selbstoptimierung, wie ich sie verstehe, ist auch das Austesten neuer eigener Möglichkeiten, zuerst im eigenen Geist, dann auch in den Gewohnheiten. Ich verstehe das immer als das Kennenlernen meiner selbst, denn mir ist klar, dass mein anerzogenes und erworbenes Wissen und Können auch vom Zufall geprägt war. Ich war halt zu der Zeit, an dem Ort, mit den Personen umgeben, die mich geprägt haben – natürlich auch schon durch das, was ich mitbrachte oder eben damals (noch) nicht. Für manche Sachen war es einfach zu früh und ich brauchte noch paar Jahre und Erfahrungen bis dahin.

Ein Kollateralgeschenk war Selbstvertrauen (mitunter bis zur Arroganz, muss ich leider sagen, weil ich das deswegen nicht selbstsympathisch finde). Aber auch ich suche solche Menschen oder die Gedanken, die sie haben. Wie haben das andere gemacht? Was ist ihre Sicht, dass sie mit Autopilot zu ihrem Ziel bringt?

Machen wir uns nichts vor, auch ich kann das nur immer mal wieder, wenn mich ein Problem selber immer wieder nervt, aber ich hab viel hingekriegt, von dem ich nie dachte, dass es mal klappt. Dazwischen lasse ich mich auch hängen, neue Gewohnheiten brauchen lange Zeit intensive Aufmerksamkeit. Weiß ich, dass ich das nicht hinbekomme, fange ich gar nicht erst an, weil sonst ein Scheitern vorprogrammiert ist sondern warte auf den nächsten Impuls. Aber möglicherweise kommt der nie. Kann passieren.

Eins der nervigsten Dinge ist für mich, mich über mich selber zu ärgern, vor allem, wenn es bekannte Dinge sind. Ich will diesen Ärger nicht haben und deswegen mache ich das. Ich ärgere mich ja nicht nur selber, sondern bin in der Zeit auch genervt und ungerecht gegenüber meinen Liebsten.

Die Frauenproblematik beschäftigt mich momentan emotional sehr. Nach “metoo” bin ich generell viel sensibler geworden, mir fallen auf einmal  Dinge auf, die früher normal, aber nicht in Ordnung waren. Mir stößt sexistische Werbung auf, die auf die Verfügbarkeit von Frauen zielen, Make-up-Verpflichtungen in bestimmten Berufen, die mit “Pflege” maskiert werden, Lächelgebot für Frauen, Luxussteuer für Tampons, die Mütteranforderungen. Ich kann unmöglich in wenigen Sätzen meine Haltung dazu beschreiben, auch weil gerade wieder viel offen ist, wo ich schon mal das Gefühl hatte, dass es doch ganz gut geht. Ich muss das noch etwas entwickeln lassen. Was war denn dein Anlass?

Deine Iridia

5 Kommentare

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Eine andere Sichtweise.
Dazu lerne und erfahre ich in dieser Zeit: Es gibt (mindestens) zwei Intelligenzen, die mich lenken und zu einem Handeln “anstiften”. Die erste ist mein Verstand. Meine Anwesenheit im Kopf und alle Gedanken, die durch ihn ziehen. Mein Verstand sagt z.B.: “Wenn du das Bad heute nicht putzt, wirst Du die ganze Woche über genervt sein von deiner eigenen Nachlässigkeit und dich außerdem unwohl fühlen im Bad.” Also putze ich. Weil ich es hasse (genau, Iridia :-), von mir selbst genervt zu sein. Mein Verstand ist ego-identifiziert und sagt mir in Streit-Situationen z.B.: “Warum macht sie das jetzt s c h o n w i e d e r? Sie weiß doch genau, dass ich das nicht leiden kann und tut es trotzdem!” Beim Badputzen ist er hilfreich. Im Streit nicht.

Die zweite Intelligenz ist mein (reines) Bewusstsein. Es ist nicht identifiziert. Es ist. Ich kann Verbindung zu ihm aufnehmen, wenn ich die Augen schließe und die Lebendigkeit jeder einzelnen Zelle meines Körpers fühle. Wenn ich das tue, kann ich unmöglich gleichzeitig denken, bin also nicht in meinem Verstand.
Direkt in einem Streit bewusst zu sein, das schaffe ich noch nicht. Aber gleich danach. Das bewirkt erstens, dass mein Ärger sehr schnell verfliegt, dringt zweitens unmittelbar zur Klarheit und Wahrheit der jeweiligen Situation vor und zeigt mir drittens, wie ich zum Besten der Situation handeln kann, deren Teil ich bin.

Neue Gedanken entspringen ausschließlich aus unserem Bewusstsein. Der Verstand kann nur reproduzieren.
Das klingt verwirrend, weil wir es gewohnt sind, uns mit unserem Verstand zu identifizieren. Woher sollen die klugen Ideen und Einfälle sonst kommen? 😉

Liebe Beate,

Zum Badputzen: was ich mit dem Beitrag sagen wollte: Ich putze nicht das Bad, weil ich das schlechte Gefühl nicht so lange haben will: ich will gar kein schlechtes Gefühl beim Putzen mehr haben, sondern gutes! 🙂

Die Aufräumerei war ein Beispiel, aber vermutlich ein weit verbreitetes, es war auch meins. Ich konnte früher noch so viel aufräumen, wenn die Art, wie ich darüber dachte, gleich blieb, war es immer irgendwie Arbeit und nerviger Energieaufwand. Aber man kann mit derselben Sache auch Energie bekommen, statt sie zu wegzugeben. Mitunter lese ich eine Formulierung und ich hab so ein Aha-Erlebnis und danach ist alles anders. Ein Teil Stress und Unlust ist wieder weg.

Gefühle wie Unlust usw. entspringen meiner Sicht nach aus den Gedanken. Und Gedanken kann man ändern, damit ziehen auch die Gefühle mit. Als mir das klar wurde, war das eine riesige Freiheit von Unlust und schlechtem Gefühl.
Man kann über diesen Weg seine Gefühle ändern. Ist das nicht herrlich? 🙂

Die Frage ist halt immer, wer man sein will.
Ist ein Bestandteil deiner Freundschaften das gemeinsame Gemecker über Badputzen, wird es einen sozialen Nutzen erfüllen und man wird es nicht loswerden wollen. Erst wenn es mehr nervt oder Freundschaften auch andere neue Themen der Gemeinsamkeit vertiefen, ist das drin, aber dann vertieft der andere oft immer noch weiter. Deswegen ist in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter es so schwer bis unmöglich, das Problem zu verlassen, denn das ist dann Bindeglied für Kontakte, bei denen man sich verstanden fühlt und das auch behalten will, weil es auf anderer Ebene gut tut.

Verstand ist für mich eine komplette Ansammlung mitunter nützlicher Gedanken, aber in der Masse einfach sinnloser Gedankenmüll und selbst dieser Gedankenmüll erzeugt Gefühle, auch unangenehme, Intelligenz würde ich das (zielgerichtete) Anwenden und vernetzen dieser Gedanken bezeichnen.

Was du mit Bewusstsein meinst, würde ich dann nach meinen Definitionen gar nicht als Intelligenz bezeichnen, sondern als Bewusstsein. In der Meditation merkt man, was es ist, frei von Denken, ein angenehmer Zustand des Seins, der Erholung vom Bombardement der Gedanken, Gefühle und Befindlichkeiten. Wie normal das ist, merkt man, wenn man beginnt und davon noch völlig überflutet wird. Kennst du das? Ich meine, dass man es merkt?

Ist doch toll, wenn du gleich nach einer Situation reflektieren kannst, ich kann es auch schlecht mitten drin, aber kurz danach ist immer noch viel besser als Tage danach, in denen man sich das Hirn zermartert hat. 😀

Liebe Iridia,

ich experimentiere noch… 🙂 Ich dachte (ha, ha) ja auch immer, dass mein Verstand der Klügste ist, und hielt bisher große Stück auf ihn. Ihn loszulassen, wenn ich meine, ihn am meisten zu brauchen, erfordert schon ein bisschen Mut.
Um Dir auszuführen, wie ich mir “das Bewusstsein” vorstelle und erfahre, müsste ich spirituell ziemlich weit ausholen. Und das interessiert hier vielleicht weniger. Das Loslassen funktioniert für mich so: Raus aus dem Kopf, rein in den Körper hier und jetzt. Dann beruhige ich mich schlagartig, weiß wieder, wer ich bin und wer ich sein will. Und dann steigen die richtigen Antworten von ganz allein in mir auf. Smartere, konstruktivere und klarere als die, die (erfahrungsgemäß) aus dem Kopf kommen würden. Ich finde das faszinierend.

Im Einverständnis mit mir selbst erkenne ich an, dass es gewisse Notwendigkeiten gibt, die erledigt werden müssen: einkaufen, aufräumen, putzen, ja, auch Sport z.B., Zahnarztbesuche — der ganze Kram, den ich nicht leiden kann. Diese Anerkennung bewirkt nicht, dass ich das alles lieber tue. Ich tus. Fertig. Nicht mit einem guten Gefühl, aber auch ohne Meckern. Aus einer gewissen Fürsorge für mich selbst heraus, um negative Konsequenzen abzuwenden. Das genügt mir als Motivation. Darüber verliere ich dann kein Wort.

Ja, das verstehe ich, meine ich.

Ich bin an dem Punkt, wo nur negative Konsequenzen abzuwenden nicht mehr mein Ziel ist, jedenfalls wenn ich es mir aussuchen kann. Ich will aus der Notwendigkeit etwas machen, das ich genießen kann. Im Grunde geht es für mich darum, mein Leben mit Sachen zu füllen, die mich tiefer befriedigen, weil ich mehr als die Hälfte schon hinter mir habe, die Zeit wird kostbarer. Und wenn es etwas ist, das ich ohnehin mache – umso besser.

Meckern wäre übrigens ein überaus interessantes Thema, bei dem für mich alles begann. Eigentlich mach ich alles, nicht zu den alten Meckertanten zu gehören, die ich aus meiner Kindheit kannte.

Liebe Grüße an dich. 🙂

Badputzen…das gefällt mir.
Ich mag es, wenn Ergebnisse sichtbar sind.
Am Ende glänzen die Armaturen, die Spiegel blitzen…es riecht sauber und frisch.
Das motiviert mich.

Ansonsten sehe ich es wie Beate: Was ansteht, muss erledigt werden und wird auch erledigt.
Mal mit mehr, mal mit weniger Lust, aber ohne zu meckern.

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