Briefwechsel (24.02.19) – Zeit haben

Meine liebe Irit,

mir ist auch aufgefallen, dass du dir mehr Zeit nimmst. Hier im Blog bedauere ich es natürlich, mir fehlt jeder Tag, an dem du nicht schreibst, aber ich hab auch das Gefühl, dass dir das gut tun wird. Als meine Mutter vor 9 Jahren krank wurde, hab ich das als Anlass genommen, meine Arbeitszeit zu verkürzen, wie neulich schon geschrieben.

Der Teil, den ich neben meiner allgemeinen Erholung für sie hatte, war schon wirklich alles wert. Als ich jung war, dachte ich, irgendwie geht alles so weiter und dann stirbt man. Mit Anfang 40 war plötzlich ich diejenige, die sich mit dem eigenen Tod konfrontiert sah.

Das hat alles geändert, wirklich alles.

Ich feiere mein Leben ganz anders und das, was mir gegeben wird. Für mich sind das wichtigste menschliche Beziehungen. Eure Mädelsreise finde ich eine phantastische Idee, ihr werdet euch bestimmt ewig daran erinnern und legt wieder einen neuen Grundstein lebendiger Erlebnisse jenseits von Geburtstagen und sowas. Ich wünschte, ich wäre auf sowas gekommen.

Ich erinnere mich noch daran, vor fast 17 Jahren mal eine Woche bei meiner Forenfreundin Kyra gewesen zu sein, als ich in große Liebesdramen verstrickt war, die heute völlig verblasst sind, aber die Woche mit ihr war phantastisch. Wir hatten uns noch nie gesehen und lernten uns voller Sympathie kennen, probierten viel, lachten fast die ganze Zeit und waren zusammen traurig in stillen Stunden. Was für eine Wahnsinnswoche.

Auch wenn wir uns wieder aus den Augen verloren haben, ich bin noch immer stolz, das überhaupt spontan gemacht zu haben und ihr dankbar für die Einladung dazu. Dazu braucht man Muße und die Voraussetzung dafür ist Zeit, die man sich nimmt. Wie soll man aber wichtige Ereignisse planen, wenn man im schnellen Zug sitzt und rast? Der Moment innezuhalten fühlte sich damals fremd und ungewohnt an. Wie geht es dir denn damit?

Deine Iridia


Liebe Iridia

eine gute und schwierig zu beantwortende Frage. Ich sitze schon so lange im schnellen Zug und schaue mir all die Dinge an, die draußen am Fenster vorbei rasen und nicht zu greifen sind.

Ich habe das lange nicht wahr genommen. Ich habe studiert wie andere auch, Mathematik habe ich schon immer “verstanden”, also bin ich mit relativ wenig Arbeit nach zwölf Semestern zu einem Diplom mit einer 1 vor dem Komma gekommen. Mein Traum war eigentlich immer “im Armanianzug über den Flughafen hetzen”, nun ja, in der Realität wollten mich die großen Beraterfirmen nicht und zugegeben habe ich auch nicht das Naturell dazu.

Stattdessen habe ich mich in einer Männerdomäne, der Energiewirtschaft, durchgekämpft und ich finde, ich bin auch ganz schön weit gekommen. Und dann kam mein Break.

Ich wurde einfach mal so mit 37 schwanger. Eher zufällig.

Mein ganzes Leben geriet aus der Bahn, alle Karrierepläne dahin – aber glücklicherweise eine Tochter (ich entschuldige mich bei den begeisterten Söhne-Müttern, aber ein Junge wäre eine Katastrophe gewesen). Dann zwei Jahre später noch eine Tochter.

Danach habe ich sehr lange gebraucht, bis ich mich von Teilzeitarbeit (naja, gut, 80%) über ein neues Karrierehoch (ich denke letzten Endes der Anfang vom Ende meiner Ehe) im heutigen Zustand wieder gefunden habe. Und irgendwie habe ich es zwischendurch geschafft, den Zug zu verlangsamen. Das sieht man hier sehr deutlich – es gibt schon lange nicht mehr den täglichen Blogpost.

Meine “Karriere” ist schon länger zum Stillstand gekommen und seit letzter Woche bin ich in einem anderen Projekt mit deutlich weniger Dienstreisen. Ich habe im Lauf der Jahre den Wert meines Zuhauses erkannt, ich bin gerne da und ich will nicht mit der Aussicht auf noch einen anderen Job oder noch ein neues Projekt wie eine Verrückte durch die Lande hetzen. Ich will abends zu Hause sein. Mit meinen Töchtern auf dem Sofa sitzen. Oder einfach etwas für mich machen.

Mit anderen Worten: ich habe eine Wahl getroffen und ich nehme die “Nachteile” bewusst in Kauf. Ich habe sehr lange gebraucht für die Erkenntnis, dass man nicht alles haben kann. Und ich bin sehr glücklich über die Umstände, die mir in gewissem Rahmen eine Wahl ermöglichen. Zukünftig wird sich der Zug noch weiter verlangsamen, eine Frage der abnehmenden Leistungsfähigkeit und geänderter Prioritäten.

Mir kam da gerade noch ein anderer Gedanke: kennst du das mit den nicht schaffbaren ToDos? Stichwort “ich müsste unbedingt mal (beliebig zu ergänzen) und habe es einfach nicht geschafft”. Ich habe kürzlich etwas darüber gelesen und die Conclusio war, dass es dann einfach nicht so wichtig ist. Ansonsten würde man ja alles daran setzen, um es doch zu tun. Ich glaube, ich muss mal meine ToDo-Liste darauf überprüfen.

Deine Irit

14 Kommentare

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Liebe Irit Liebe Iridia,
Ich genieße es wenn die eigenen im Kopf umherfliegenden Gedanken, in Worte und Sätze gefasst, geordnet zu lesen sind. Noch dazu in einer Art und Weise die, so finde ich, sehr vertraut und intim eine lange ‘Auseinandersetzung’ spiegeln.
Ich danke euch beiden daran teilhaben zu dürfen.
Euch einen schönen Sonntag
LG Gundula

Liebe Irit,
Ich finde den Gedanken, dass Dinge, die man von der to do Liste nicht abgehakt hat, doch nicht so wichtig sein können, ganz wunderbar! Könnte fast zu meinen Lebensmotto werden! Dank Dir und liebe Grüße aus Wien
Elisabeth

Liebe Irit,

Irgendwann erkennt man, das Karriere nicht alles ist. Ich bin vor ca. 10 Jahren von Männern auf unsägliche Art ausgebremst worden. Die Art und Weise wie damals mit mir umgegangen wurde, werde ich den Herschaften nie verzeihen. Aber ich bin froh über das Leben, das ich dadurch heute führen kann: Selbstbestimmt, eigener Herr meines Terminkalenders. Ich kann meinen Leidenschaften nachgehen und den Spaß haben, den mir ein Schritt auf der Karriereleiter nie gebracht hätte.

Grüße von Claudia

Ich saß noch nie im schnellen Zug. Nur einmal kurz, so im Alter zwischen 27 und 30, habe ich zehn, zwölf Stunden täglich gearbeitet und relativ viel Geld verdient. Hatte ich nicht geplant, war einfach so. Da gab es aber auch nichts anderes als Arbeit. Mit meinem Kind kam ich dann auf Teilzeit und bin dort geblieben. Karriere erschien mir nie erstrebenswert. Wenn Karriere beruflichen Aufstieg meint. Zeit für mich und mit mir bedeutet mir mehr als “viel” Geld. Auf Geld kann ich bis zu einem gewissen Punkt verzichten. Auf mich nicht. Wenn im Hinblick auf Armut in Deutschland immer von gesellschaftlicher Teilhabe die Rede ist, wundere ich mich. Oder über diesen Satz, der jedes Mal kommt: “Ich kann mir nicht leisten, einen Kaffee trinken zu gehen.” Bedeutet “gesellschaftliche Teilhabe”, Geld dafür zu bezahlen, in einem Raum mit vielen Tischen und Stühlen einen Kaffee zu trinken?

Neulich im Radio sagte eine Schriftstellerin, sie fahre jeden Tag mit dem Rad, bei jedem Wetter, das ganze Jahr. Immer. Was sie da so beobachte, wenn sie anwesend in der Welt sei, gebe ihr unendlich viel Input und Stoff für ihre Geschichten. Das könnte gesellschaftliche Teilhabe sein.

Das Missverständnis in meinen Augen ist, dass viele Menschen glauben, freie Zeit sei dazu da, Geld auszugeben. Ich gebe in meiner freien Zeit kaum Geld aus. Zeit und Geld gehören für mich nicht unbedingt zusammen. Zeit ist Zeit. Geld ist Geld. Das allerschönste an Zeit ist für mich zu spüren, sie zu haben. Und das kostet gar nichts.

Geld ist eine schöne Sache, insbesondere, wenn es genug ist. Aber mich hat immer etwas anderes angetrieben: ich brauche Beschäftigung für meinen Kopf. Herausforderungen, Probleme, die zu lösen sind, interessante Aufgaben, neues lernen. Für mich gibt es nichts schlimmeres, als jeden Tag denselben Kram zu machen. Ich will Thrill, Konzepte erdenken, Dinge durchsetzen und so weiter. Das ist bei Teilzeit eher schwierig zu realisieren – weil es an der Verantwortung fehlt.

Thrill, Herausforderungen (harte!), Probleme, die zu lösen sind, hatte ich immer genug in meinem Privatleben… (oah nee, wie krieg ich das jetzt wieder hin?!)… 😉 Das war und ist mein großes Erfahrungs-, Entwicklungs- und Leistungsfeld. Hier liegen meine beachtlichen Verantwortlichkeiten und Erfolge, auf die ich persönlich sehr stolz bin. Wenn ich dafür Geld bekommen hätte… Für das Geld, das ich verdient habe, musste ich mich hingegen nie besonders anstrengen. Balance ist allerdings wichtig. Thrill und Probleme in beiden Bereichen sind dauerhaft nicht zu bewältigen 🙂

oh, neues Posting, Beate.

Das stimmt allerdings. In meinem Privatleben ging es zwar auch oft etwas drunter und drüber, Thrill selbst war aber immer nur ganz kurz dabei, am ehesten noch in der frühen Kindheit und bei akutem Liebeskummer.

Ich glaube auch, dass beide Bereiche völlig überfordern. Den Krieg in meiner Kindheit wollte ich nie wieder haben, wenn ich es vermeiden konnte und vermutlich hatte das auch oberste Priorität.

naja, das mit den Herausforderungen bezieht sich eher auf “mathematische” Probleme oder Projektorganisation oder eben bei einer Software die Lösung finden, mit der man es eben doch hinbekommt. Ansonsten brauche ich das nicht so.

Da gibt es nichts besseres oder schlechteres.

Ich fand den Beruf auch wirklich sehr erfüllend, egal, als was ich gearbeitet habe. Es hat mir Horizonte erweitert und auch Unmengen an Kraft gegeben. In gewisser Weise ist es auch jetzt noch so. Ich bin eine andere, wenn ich nebenbei arbeite, ich mag meine Kollegen, was ich mache, die ganze moderne Kunstszene, die Atmosphäre. Geld war wiederum für mich nie eine Triebfeder und ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Darüber muss ich noch mal weiter nachdenken.
Es hat auf einer Seite auch verhindert, ganz zu erfahren, wozu ich in der Lage war. Andererseits hab ich so viele Interessen und auch so viel beruflich gemacht, dass mir vielleicht eher das im Wege stand – aber das war dennoch eine gute Wahl für meine Seele.

Aber eben halt, bis zu einer gewissen Zeit. Diese überbrodelnde Energie gibt mir das nicht mehr und damit fehlt mir der Grund, dort weiter zu machen und ich merke, dass schon sehr viel Lebenszeit damit vorbeigegangen ist. Ich frag mich gerade, ob das mit den Wechseljahren begonnen hat und die Hormone da viel mitspielen.

@Beate

ich sehe es ein wenig wie du, aber auch nicht komplett. Ich finde auch, dass viel zu viel ums Ausgeben geht. Aber draußen einen Kaffee zu trinken, hat für mich auch was damit zu tun, eine andere Energie zu bekommen, Sachen aus anderer Perspektive zu sehen, wie es im Urlaub auch ist: Umwelt aufzunehmen, auch personelle, ästhetische und örtliche. Ich komme mit jeder Menge Kraft zurück, aber natürlich nicht nur von aus dem Urlaub.

Mir gibt allerdings auch die Richtung zu denken, alles, was möglich ist, nur im Außen mit Geldeinsatz zu machen, der extrem starke Einfluss von Essen und Trinken in jedem Moment, der dafür frei zu sein scheint.

Falls es mal so kommen sollte, dass ich kein Geld hätte, um mir in einem Café einen Tee zu bestellen und die Energie der Umgebung zu erleben –, wäre ich heute so weit, so frech oder so befreit (!), mit einem Lächeln zu einem Menschen an den Tisch zu treten und ihn freundlich zu fragen, ob er mich zu einer Tasse einladen würde… 😉
Im Gegensatz zu Dir kostet mich die Hinwendung nach außen Energie. Die Hinwendung nach innen gibt mir neue.

Kürzlich hatte ich einen kleinen Emailaustausch mit meinem ersten Freund. Wir sind derselbe Jahrgang und waren zusammen im Alter von 18 bis 24. 25 Jahre später schauen wir nun auf unser beider Leben und wie wir uns entwickelt haben. Die Wahl seiner Seele (ja, so läuft das wohl!) betraf sämtlich Ziele im Außen. Er hat als Doktor der Elektrotechnik Karriere bei einem großen Konzern gemacht, ist in der Welt herumgekommen; drei Kinder, großes Haus, teure Urlaube. Seltsamerweise stellte sich heraus, dass er sich selbst von innen kaum kennt, wenig Verbindung zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen hat, und jetzt, mit 50, sein Leben infrage stellt. Er weiß nicht, wer er ist, warum er ist und sucht sehnsüchtig nach etwas Namenlosem, das ihm fehlt.

Meine Seele verfolgte konsequent Ziele im Innen. Das war ungemütlich. Und über lange Strecken eine Wanderung auf dem Grat der Erträglichkeit. Und heute weiß und fühle ich, wer ich bin, warum ich bin, kenne meine Werte und Bedürfnisse. Und habe gefunden, was ich suchte. Ich bin innen reich. Er ist es außen. Und falls wir beide nächste Woche sterben sollten, kann ich mehr mitnehmen…

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